Wenn die Wut hochkocht ...
Aggressionen in der Pflege können in Gewalt münden. Deshalb ist es entscheidend, problematische Verhaltensweisen früh zu erkennen und zu entschärfen. Ein Pflegeexperte erklärt, wie das gelingen kann, und eine pflegende Angehörige beschreibt, wie sie eine sehr emotionsgeladene Situation gemeistert hat.
Als Lina Fuhrer eines morgens die Wohnung ihrer Großmutter betrat, fand sie die 92-Jährige auf dem Boden liegend vor. Die Seniorin war in der Nacht gestürzt und hatte sich nicht selber helfen können. Nun lag sie auf den kalten Fliesen, eingenässt und geschwächt. Die hochschwangere Lina schaffte es nicht, Margarethe aufzuhelfen. Sie wollte den Notruf wählen. „Keinen Rettungsdienst, ich will nicht ins Krankenhaus“, wimmerte die pflegebedürftige Seniorin. „Was soll ich denn machen?“, brüllte Lina. „Hättest du den Notrufknopf bei dir gehabt, wäre das nicht passiert! Wenn du dich weiter weigerst, schmeiße ich alles hin. Dann kannst du sehen, wie du alleine klarkommst!“
Stress, Angst und Überforderung lösen in der Pflege oft heftige Gefühle aus. Laut einer Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) empfinden fast 30 Prozent der pflegenden Angehörigen regelmäßig Niedergeschlagenheit, Wut und Ekelgefühle. Etwa die Hälfte hat den Eindruck, dass die pflegebedürftige Person die Hilfe nicht zu schätzen weiß. „Solche Gefühle sind verständlich, aber auch gefährlich“, warnt Dr. Simon Eggert, Geschäftsleiter des Forschungsbereichs im ZQP. „Unkontrollierte Aggressionen können in Gewalt umschlagen – gegen Pflegebedürftige oder gegen die Pflegenden selbst. Das belastet die Beziehungen, die Gesundheit und die Lebensqualität.“
Wenn Pflege schadet
Im Affekt können pflegende Angehörige und Pflegebedürftige einander grob behandeln – bewusst oder unbewusst. In der ZQP-Studie berichten beide Seiten von psychischer Gewalt wie Anschreien, Beleidigungen und Drohungen. Grobes Anfassen oder Schlagen sind Beispiele für ebenfalls vorkommende körperliche Gewalt. „Oft merken die Beteiligten nicht, dass ihr Verhalten unangemessen ist“, erklärt Dr. Simon Eggert. Besonders problematisch sind vermeintliche Schutzmaßnahmen: Aus Angst vor einem Sturz hindern Pflegende die Betroffenen am Aufstehen oder Verlassen eines Raumes. Oder sie verweigern ihnen die Gehhilfe. Manchmal werden Pflegebedürftige auch aus falsch verstandener Fürsorge regelrecht genötigt, zu duschen, zu essen oder Medikamente zu nehmen. „Auch das ist Gewalt“, betont Eggert. „Pflegebedürftige haben das Recht, sich frei zu bewegen und selbst zu entscheiden – auch wenn sie sich vielleicht selbst damit schaden. Sie dürfen nicht in ihrer Bewegungsfreiheit oder in ihrem Willen eingeschränkt werden.“
Gewalterleben ist subjektiv
Problematische Situationen werden oft verharmlost. Doch was jemand als Gewalt erlebt, ist subjektiv und hängt von der Situation, dem körperlichen Empfinden und den Beziehungen ab. „Berührungen oder Worte, die für die eine Person harmlos sind, können für die andere sehr unangenehm oder verletzend sein“, verdeutlicht Dr. Eggert. „Kritisch wird es, wenn eine oder beide Seiten darunter leiden.“
So spürte es auch Lina, die eigentlich anders heißt und anonym bleiben will. Ihre Worte hatten, ohne dass sie es zunächst bemerkte, Spuren bei ihrer Oma hinterlassen. „Sie schaute mich entsetzt an und war danach tagelang stiller als sonst“, erinnert sich die Enkelin. „Später erzählte sie mir, dass sie mich noch nie so emotional erlebt und deshalb Angst bekommen habe.“
Nach einem Gefühlsausbruch tut es gut, sich der akuten Situation zu entziehen, einfach mal tief durchzuatmen und zur Ruhe zu kommen.
Konflikte und Kontrollverlust
Pflege verändert Beziehungen und schafft oft ungewollte Nähe. „Körperliche oder emotionale Distanz lässt sich kaum wahren. Unterschiedliche Perspektiven geraten schneller in Konflikt“, erläutert der ZQP-Experte. Daher war auch Linas Wutausbruch absehbar: Sie war überlastet durch Job, Familie und Pflege und hatte überdies ihrer Großmutter noch am Vorabend den Notrufknopf umgehängt. Die wiederum war auf Äußerlichkeiten bedacht und hatte den Notrufknopf, in dem sie ein Zeichen ihrer Gebrechlichkeit sah, im Nachtschränkchen verschwinden lassen. „Aus Sorge kann man auch mal die Beherrschung verlieren“, räumt Eggert ein. „Anschreien ist nicht ideal, aber menschlich. Wichtig ist, dass es nicht absichtlich geschieht und Drohungen nicht in die Tat umgesetzt werden.“
„Ich will gar nicht so sein, bin es aber doch.“
Situation entschärfen
Lina handelte instinktiv richtig. „Ich bekam Panik und rannte ins Bad“, erinnert sie sich. „Von dort rief ich meine Schwester an. Sie beruhigte mich und schlug vor, selbst den Notrufknopf zu drücken.“ Gesagt – getan. Mit Hilfe des Bereitschaftsdienstes wurde die Seniorin versorgt. Sie blieb unverletzt und konnte zuhause bleiben. „Am Abend entschuldigte ich mich bei ihr“, berichtet Lina. „Daraus entwickelte sich zum ersten Mal ein Gespräch über ihre Zukunft. Uns wurde klar, dass es so nicht weitergehen kann.“ Gemeinsam beschlossen sie, eine 24-Stunden-Kraft und einen mobilen Pflegedienst zu engagieren.
Einsicht ist wichtig
Nicht immer lassen sich emotionsgeladene Konflikte so gut klären. Viele Grenzsituationen werden aus Unwissenheit oder Scham nicht besprochen und geklärt. „Aggressionen sind Warnsignale und dürfen nicht ignoriert oder heruntergespielt werden“, betont der Pflegeexperte. „Es erfordert Mut, sich einzugestehen, dass das eigene Verhalten nicht in Ordnung ist. Nach dem Motto: Ich will gar nicht so sein, bin es aber doch.“ Diese Einsicht ist der erste Schritt, um Ursachen zu erkennen und Lösungen zu finden. Professionelle Beratung und Hilfe kann dabei unterstützen.
Krise als Wendepunkt
Negative Emotionen sind kein Grund, sich selbst oder anderen Vorwürfe zu machen. „Jeder sagt mal etwas, das er oder sie nicht so meint“, gibt Dr. Eggert zu bedenken. „Wichtig ist, die eigenen Grenzen und die des Gegenübers zu respektieren. Wenn Pflegebedürftige kognitiv dazu in der Lage sind, kann man sich entschuldigen, Gefühle erklären und Kompromisse suchen.“
Lina hat sich inzwischen mit ihrem Wutausbruch versöhnt. Rückblickend veränderte dieser Moment vieles zum Positiven: Die Pflegeaufgaben übernahmen andere – und Lina konnte die Zeit mit ihrer Großmutter, die wenige Monate später starb, genießen.
Wie kommt es zu Aggressionen?
Risikofaktoren:
- belastete Familienbeziehungen
- Überforderung der Pflegeperson
- psychische Erkrankungen, Demenz oder Substanzmissbrauch
- eigene Gewalterfahrungen
Tipps: Umgang mit Aggressionen
Wie gehe ich mit eigenen Aggressionen um?
akut
- kurz den Raum verlassen
- Augen schließen, tief einatmen, bis zehn zählen
- hin und her gehen oder sich kräftig schütteln
kaltes Wasser über die Unterarme laufen lassen
langfristig
- Überlastung vermeiden
- für Entspannung und Ausgleich sorgen
eigene Interessen nicht vernachlässigen
Wie reagiere ich auf Aggressionen von Pflegebedürftigen?
akut
- ruhig bleiben
- von der Situation ablenken
- Nähe suchen oder Abstand halten (je nach Berührungsempfinden)
Worte oder Verhalten nicht persönlich nehmen
langfristig
- sich Zeit für Pflegevorgänge nehmen, sie ankündigen
über die Situation sprechen
In beiden Fällen:
- Krisentelefon anrufen
- notfalls Hilfe holen
- Ursachen klären und vermeiden
- Unterstützungsangebote nutzen (z. B. Beratung, Austausch, Pflegedienst)
Was tun bei Aggressionen und Gewalt?
Der ZQP-Ratgeber mit Tipps zum Umgang mit Aggressionen und Gewalt in der Pflege ist abrufbar unter:
www.zqp.de/produkt/ratgeber-gewalt-vorbeugen/
Krisentelefone: Hilfe, wenn man nicht weiterweiß
„Handeln statt misshandeln“-Seniorentelefon: 02222 – 995 – 4569
Alzheimer-Telefon: 030 – 25 93 79 514
Telefonseelsorge: 0800 – 11 10 111
Eine Übersicht über deutschlandweite Krisentelefone gibt es hier: